treibhaus

Kulturprogramm für Stadtbenützer

Spielplatz am Volksgarten. Angerzellgasse 8, 6020 Innsbruck. Geöffnet alltäglich von 16:00 bis Sperrstund ist.

LUCIANO BIONDINI / ANDREAS SCHAERER: A Novel of Anomaly IT /CH / FINN

Musik ist die vielschichtigste Form der Kommunikation, dessen Spannung im Jazz durch die Spontaneität der Improvisation noch gesteigert wird: Verbal, audiovisuell, emotional und selbst über die Körpersprache. Im besten Fall stellt sich das vielbeschworene blinde Verständnis, eine unerklärliche Vertrautheit ein. So auch, als der Berner Stimmakrobat und stilübergreifende Komponist Andreas Schaerer 2013 auf den Zürcher Schlagzeuger Lucas Niggli traf. „Ohne Vorprobe und ohne uns inhaltlich abgesprochen zu haben, gingen wir auf die Bühne“, erinnert sich Schaerer, „aber es fühlte sich an, als wären wir alte, bestens vertraute Weggefährten.“ Regelmäßig spielten sie fortan im Duo Stimme-Schlagzeug, mal leiseste akustische Zwiegespräche, mal ungezügelte, bombastische Klangwelten suchend. Bald kam der Wunsch auf, diese beiden Extreme intensiver auszuleuchten.

Für eine Tournee wollten sie ihr Duo mit Gästen zu zwei verschiedenen Trios ausbauen: Mit dem italienischen Akkordeonisten Luciano Biondini wollte man sich dem Songhaften, Poetischen widmen, mit dem in Berlin lebenden finnischen Gitarristen Kalle Kalima den kraftvollen elektronischen Momenten. „Die Proben waren so geplant, dass wir morgens mit Luciano und nachmittags mit Kalle arbeiten würden. Aber weil ein Flug Verspätung hatte, waren wie alle vier gleichzeitig im Proberaum. Fließend ging der Soundcheck in eine wilde zweistündige Kollektivimprovisation über“, erinnert sich Schaerer, und Niggli ergänzt: „Dabei haben sich die zwei dann so gut verstanden, dass uns klar war, dass wir die nicht wieder auseinanderreißen können.“ Statt zwei Trios war so das mit Gitarre, Akkordeon, Schlagzeug und Stimme einzigartig besetzte Quartett geboren.
Angesichts der Popularität der Mitglieder wurde die Band von Anfang an hoch gehandelt und von vielen Festivals eingeladen. Bei diesen Auftritten entwickelte sich das gleichberechtigte Quartett zur verschworenen Einheit. Zunächst mit alten Stücken, die jeder aus dem eigenen Repertoire holte, nach und nach mit neuen, eigens für das Quartett geschriebenen Titeln. Alle konnten Kompositionen beisteuern, die ihre jeweilige musikalische Herkunft und Vorliebe spiegeln. So ergibt sich auf dem jetzt eingespielten Album „A Novel Of Anomaly“ ein buntes Panorama, das zugleich den harmonischen und unverwechselbaren Bandcharakter offenbart.

Bei „Aritmia“, mit seinem treibenden Schwung der ideale Opener, wie auch bei der melancholischen Ballade „Stagione“ steht das mediterrane Element, Biondinis Italianità, im Mittelpunkt. Kalle Kalima lässt bei „Dive“ Einflüsse des finnischen Tangos und bei „Planet Zumo“ mit entsprechender Rhythmik und schollernder Highlife-Gitarre seine Zusammenarbeit mit dem nigerianischen Schlagzeuger Tony Allen aufblitzen. Auch Niggli wendet sich in Richtung Afrika, ist er doch bis zu seinem sechsten Lebensjahr in Kamerun aufgewachsen. Für sein ätherisches Stück „Flood“ stand der afrikanische Dichter Chenjerai Hove Pate. Schaerer schließlich gibt im Akkordeon-Gesangs-Duett „Causa Danzante“ klassischen Anklängen Raum und legt mit „Getalateria“ einen fulminant rockigen alpinen Jodel-Blues hin. Ideal verbinden sich alle Elemente, das filigran druckvolle Schlagzeug Nigglis, die sich jedes Instrument aneignenden, multiphonen, auch mal beatboxenden Soli Schaerers, die expressive Gitarre Kalimas und das fast orchestral eingesetzte Akkordeon Biondinis auf dem hymnischen „Signor Giudice“.
„Es war mir wichtig, auf dem Album auch dem Klang der Muttersprache jedes Musikers Raum zu geben“, betont Schaerer. So erzählt das gemeinsam geschriebene „Fiore Salino“ auf Italienisch von den Spielarten von Seelenverwandtschaft und Freundschaft. In „Swie Embri“ singt Schaerer auf Walliserdeutsch vom ewigen Fluss der Dinge. Der auf Finnisch gehaltene Text von „Laulu Jatkuu“ schließlich reflektiert, von einem Bergsteigerdrama begleiteten Auftritt der Band auf dem Montblanc inspiriert, die Gleichzeitigkeit von Werden und Vergehen.
So ist „A Novel of Anomaly“ ein schillerndes Zeugnis für das Zusammenwachsen des aktuellen europäischen Jazz. Nach seinem orchestralen Mammutwerk „The Big Wig“ und dem Improvisationsfeuerwerk „Out of Land“ (mit Emile Parisien, Vincent Peirani und Michael Wollny) taucht Andreas Schaerer nun in einen neuen Klangkosmos ein: „A Novel of Anomaly“ präsentiert 11 Kurzgeschichten, die vermehrt auch intimeren und reduzierteren Stimm-Klangfarben Raum bieten – ungewöhnlich, überraschend und mitreißend zu gleich.

X