treibhaus

Kulturprogramm für Stadtbenützer

Spielplatz am Volksgarten. Angerzellgasse 8, 6020 Innsbruck. Geöffnet alltäglich von 16:00 bis Sperrstund ist.

VADIM NESELOVSKYI & DAS MRIYA -STREICH-ENSEMBLE : UKRAiNiAN DIARY

Musik erzählt immer eine Geschichte. Aber manchmal ist diese besonders eindringlich. Da fallen mal die Töne wie Schneeflocken, als wäre es ein Impromptu von Robert Schumann, das Stück heißt „Winter in Odessa“. Dann wieder, die Nummer heißt „Central Station“, treibt ein Beat machtvoll vorwärts, man hört Züge ankommen und abfahren, obwohl alles nur Soloklavier ist.

Als junger Pianist, der in Odessa/Ukraine aufwächst, entdeckte Vadim Neselovskyi frühzeitig, dass es nicht seine Aufgabe ist, bestimmten stilistischen Strömungen zu folgen sondern einfach selber ein Schöpfer von Musik zu werden. Das hat er seither mannigfach auf so erfinderische wie unerwartete Weise getan: als Komponist vom Jazztrio bis zum Sinfonieorchester, als Improvisator auf überraschenden Wegen zwischen straightahead und cutting edge, und als Partner, gleichermaßen geschätzt von Kollegen und Mentoren.
Einst als Wunderkind jüngster klassischer Klavier-Student in der damals noch sowjetischen Ukraine, hörte er Keith Jarrett, Chick Corea usw nur per CDs, die Seeleute in die Hafenstadt mitbrachten. Als Vadim 17 Jahre alt und eigentlich bereits ein „fertiger“ klassischer Pianist war, emigrierte seine Familie nach Dortmund und er beschloss Jazz im Land seines Ursprungs zu studieren. Er ging an die Berklee School in Boston.
Mit seinen vielfältigen Talenten zog er die Aufmerksamkeit z.B. von dem großen Lehrer und Vibraphonisten Gary Burton auf sich, der Vadim in sein legendäres Generation Quintet holte. Auf Vorschlag von Herbie Hancock bekam er später ein volles Stipendium am Thelonious Monk Institute. John Zorn lud ihn ein zu The Book Beriah, dem letzten Akt seines Vierteljahrhundert-Projektes Masada. Seine erste Solo-CD produzierte 2013 kein Geringerer als Fred Hersch.

Vadim Neselovskyi, Klavier
Viktor Ivanov, Violine
Kateryna Suprun, Viola
Mariia Mohylevska, Violoncello

 

UKRAINIAN DIARY - EINE SUITE iN 10 SÄTZEN - VON UND MIT VADIM NESELOWSKYI
Eine Komposition für Klavier und ein Streichtrio (Geige, Bratsche und Cello) - teile davon werden (ur)aufgeführt!

 „Ukrainian Diary“ ist meine persönliche Reaktion auf das alles was wir alle seit Beginn der Russischen Angriffs auf Ukraine erlebеn: Angst, Empörung, Unfähigkeit das Ausmaß der jetzigen Tragödie zu begreifen. Bewunderung für den Heldenmut der Menschen, die für ihr Land kämpfen. Meine neue Suite soll eine Botschaft sein, die über den Krieg in der Ukraine hinausgeht, eine Botschaft, die uns daran erinnern wird, dass wir alles nur erdenklich Mögliche tun müssen, um unsere grundlegende humanistische Werte für alle zu schützen. Diese Musik ist Ausdruck meines Glaubens an Toleranz, Empathie, Freiheit und Demokratie. 

Für die Aufführung des „Ukrainischen Tagebuchs“ habe ich das ukrainische Streichtrio „Mriya“ („Traum“ vom Ukrainischen) eingeladen. „Mriya“ besteht aus drei erstklassigen Musikern, die zu Beginn des Krieges aus Kiew nach Berlin fliehen mussten. 
Abgesehen davon, dass die Bratschistin Kateryna Suprun, der Geiger Viktor Ivanov und die Cellistin Mariia Mohylevska zu den besten Vertretern der modernen ukrainischen Geigenschule gehören – durch meine Musik erzählen sie ihre persönliche Geschichte. Das „Ukrainische Tagebuch“ ist auch ihr persönliches Statement zu allem, was sie nach dem 24 Februar erlebt haben.

1.    Before 24 – Ukraine vor dem 24. Februar. 
2.    Russische Panzer in der Nähe von Kyiv.
3.    Bucha.
4.    „I dont need a ride” — Ukrainer kämpfen für ihr Land.
5.   Orwell in Moskau.
6.    Flüchtlinge – Verzweiflung und Hoffnung
7.    Moskau tanzt, als wäre nichts passiert
8.    Beerdigung in Lviv 
9.    Gegenoffensive.
10.  After 24 — Die Freiheitsmelodie. 

KURZBESCHREIBUNG DER EINZELNEN TEILE

1.    Before 24 – Ukraine vor dem 24. Februar. 
Noch im August 2021 habe ich meine Heimatstadt Odesa, Ukraine besucht. Es herrschte eine sorglose, sommerliche Atmosphäre eines Urlaubsortes am Schwarzen Meer. Viele Sprachen konnte man auf Straßen hören – aber überwiegend Ukrainisch und Russisch. Kein Drama, keine Spannung in der Luft – einfach Sommer, blauer Himmel, sonnige Tage am Schwarzen Meer. Hätte man da schon die große Tragödie, die vollständige Invasion, erahnen können, die am 24. 02.2022 begann? Ich denke, die Mehrzahl der Ukrainer*innen würde sagen: nein. Obwohl seit 2014 schon so viel passiert war: Die Annexion der Krim, der russisch unterstützte Separatismus in Donbass, doch niemand hat richtig an einen vollständigen Krieg zwischen Russland und der Ukraine geglaubt. In diesem ersten Teil der Suite herrscht eine ruhige, lyrische, friedliche, liebevolle Stimmung. Doch: in manchen motivischen und harmonischen Wendungen kann man eine tief versteckte Unbehaglichkeit spüren.

2.    Russische Panzer in der Nähe von Kyiv.
Die ersten Tagen der Invasion. Die böse, undenkbare und irrsinnige Rede Putins, in der er der der Ukraine das Existenzrecht verweigert. Das Land wird von Raketen bombardiert. Gleichzeitig nähern sich die Panzerdivisionen immer näher Kyiv, die ukrainische Hauptstadt. Die Nachrichten, BBC, CNN, NYT und Spiegel berichten, dass Kyiv in 24 Stunden okkupiert sein wird.
In den ersten Tagen befand ich mich in einem tiefen Schock. Ständige Telefonate mit Freunden und Kollegen in Kyiv, Odesa, Kharkiv, Dnipro, Lviv. Versuche zu helfen, zu unterstützen. Und – Nachrichten, Nachrichten, Nachrichten. Im Internet und im Fernsehen sieht man die Panzer, die Kyiv immer näher rücken. Ich wurde 1977 in Odesa geboren und bin dort aufgewachsen, im überwiegend russischsprachigen Raum. Es war deshalb für mich völlig unvorstellbar, dass Menschen, die die gleiche Sprache sprechen wie ich, jetzt mit Panzern und Waffen nach Kyiv marschieren. All diese Emotionen sind in dem zweiten Teil der Suite zu hören – erschreckender, kalter, maschinenartiger Puls der nahenden, unvermeidlichen Katastrophe. Umher – Menschen in Städten und Dörfern, die sich in Kellern verstecken, krampfhaft telefonieren, um Hilfe bitten und nach einer Fluchtmöglichkeit suchen. Bereitschaft für das Schlimmste. Angst ist überall. Und - selbstzufriedene, russische Soldaten, unverschämt, mit einem Gefühl völliger Freizügigkeit und völligem Vertrauen in ihre Richtigkeit – mit dem einen Ziel, immer näher an die Hauptstadt heranrücken – zu töten, zu rauben, zu vergewaltigen.

3.     Bucha. 
Die ersten Kriegswochen waren schrecklich und schockierend. Man dachte, dass die Situation kaum schlimmer werden könnte – bis die Nachrichten aus Bucha kamen und das wahre Ausmaß der sich entfaltenden Tragödie, das wahre Ausmaß an Grausamkeit, Gewalt und mittelalterlicher Wildheit der Okkupanten klar wurde. Es sind die Fotos von Bucha und meine persönliche Schockstarre angesichts unvorstellbaren Unglücks, die den dritten Teil der Suite bestimmen. Ein Gefühl der völligen Verlorenheit, die Unmöglichkeit zu begreifen, dass ein Mensch im Jahre 2022 immer noch in der Lage ist, so grausam zu sein, dass alle Errungenschaften der Menschenrechte und der demokratischen Freiheiten in wenigen Tagen durchgestrichen werden können, dass ein Land ein anderes überfallen kann und dort eine echte Hölle verursachen kann.

4.  „I dont need a ride” — Ukrainer kämpfen für ihr Land.
Am 25. Februar rief der US Präsident Joe Biden den ukrainischen Präsidenten Zelenskyj an und schlug ihm eine sofortige Evakuierung vor. Es war klar, dass Zelenskyj für den Aggressor das Ziel Nummer eins war und man sich um sein Leben große Sorgen machte. Als Antwort darauf äußerte Zelenskyj einen Satz, der zweifellos in die Geschichtsbücher eingehen wird: “Ich brauche keine Mitfahrgelegenheit. Ich brauche Munition.“ Mich persönlich hat diese Entscheidung von Zelenskyj zutiefst beeindruckt und unterstützt. Es wurde klar, dass der Präsident bis zum Ende kämpfen würde und die Armee und das gesamte ukrainische Volk ihm folgen würden. Über diese Entschlossenheit, über verzweifelten Widerstand, über Willenskraft und Bereitschaft der Ukrainer, ihre Werte und ihre Freiheit zu verteidigen – darüber spricht der vierte Teil der Suite.

5. Russland: Orwells Realität und die Macht der Staatspropaganda.
Wir kamen 1995 als Kontingentflüchtlinge nach Deutschland. Meine Eltern (mein Vater, geboren 1938, verstorben 2019) und meine Mutter (Jahrgang 1939) haben auch in Dortmund noch weiterhin viel russisches Fernsehen geschaut. Jedes Mal, wenn ich meine Eltern besucht habe und ein wenig von den Talkshows der russischen Fernsehsender mitgekriegt habe, hatte ich das Gefühl einer Art künstlich geschaffenen Welt, wie bei Alice hinter den Spiegeln. Die ständige Suche nach dem Feind, das unaufhörliche, kritische Gerede über die Ukraine, das ständige Prahlen mit ihrer Militärmacht und Drohungen wie „Wir können es wiederholen“…
Als der Krieg begann, erreichte die russische Staatspropaganda eine völlig absurde Stufe: Auf der einen Seite taten unzählige Kulturschaffende so, als wäre nichts passiert: Spaß, Freude, Lieder und Tänze sind auf dem Bildschirm zu sehen. Andererseits sahen wir ein Bild, das Orwell viele Jahre zuvor beschrieben hatte: "Krieg ist Frieden! Freiheit ist Sklaverei!” Für das Plakat „Nein zum Krieg“ wurde man sofort verhaftet. Dann wurden die Plakate verschlüsselter, so etwa: „…. … …..“ Die Polizei hat alle Protestierenden sofort ins Gefängnis gesteckt. Es gab mehrere Berichte über Verhöre mit Gewalt und Folter. In diesem Teil der Suite versuche ich, ein Gefühl imaginärer Normalität zu vermitteln, Versuche, Wohlbefinden und Glück in einer Zeit nachzuahmen, in der in der Ukraine schwere Kriegsverbrechen begangen werden.

6. Die ukrainischen Geflüchteten.
Und während in Moskau die Party einfach weiter geht, mit Konzerten und Filmpremieren, sieht man an den Bahnhöfen der Ukraine Flüsse, Meere von Menschen. Bilder, die man seit dem 2. Weltkrieg nicht gesehen hat. Frauen, Kinder, Senioren, Schwerbehinderte – alle versuchen, in den Zug zu kommen, es gibt Schlägereien auf den Bahnsteigen, jemand erkämpft sich gewaltsam einen Platz im Zug, andere helfen einander voller Selbstaufopferung. Die Menschen fliehen vor dem Krieg! Sie rennen zur polnischen Grenze, um nach Europa zu gelangen und den Bomben, dem russischen Terror zu entkommen. Auch ich habe mein Bestes getan, um den Flüchtlingen zu helfen, die nach Deutschland kommen wollten. Gemeinsam mit anderen Aktivisten haben wir Menschen geholfen, nach Deutschland zu kommen, eine Gastfamilie für sie gesucht, bei den ersten Schritten mit deutschen Behörden geholfen. Deshalb spürte und spüre ich diese herzzerreißende Bewegung der Ukrainer*innen durch Europa ganz nah auf der Haut. Dieser Teil der Suite erzählt von dieser humanitären Katastrophe, von den deutschen Bahnhöfen, in denen Flüchtlingsunterkünfte eingerichtet wurden, von den Zügen, in denen plötzlich so viele Ukrainer*innen auftauchten, die kein Wort Deutsch oder Englisch sprachen und deshalb besonders auf Hilfe, Unterstützung und Mitleid angewiesen waren. All diese Gefühle spiegeln sich im sechsten Teil der Suite wider.

7. Moskau tanzt, als wäre nichts passiert.
Währenddessen gibt es in Moskau nach wie vor Theaterpremieren, fröhliche Straßenfeste, Menschen sitzen in Cafés, in Restaurants. Und nichts in dieser sorglosen, sommerlichen Atmosphäre verrät, dass das Militär dieses Landes gerade ganze Städte wie Mariupol mit Bomben ruiniert, dass die ukrainische Zivilbevölkerung von russischen Soldaten getötet, beraubt und vergewaltigt wird, dass Schulen zerstört werden, ukrainische Bücher verbrannt und Haushaltsgeräte gestohlen werden.
Von dieser schrecklichen, unvorstellbaren Dissonanz – über ein Fest während der Pest – handelt der siebte Teil der Suite.

7. Lviv Funeral.
Wie viele tragische Bilder haben sich seit Beginn des Krieges vor unseren Augen abgespielt: der Angiff auf das Theater in Mariupol, in dessen Keller Hunderte Personen Schutz gesucht und  doch getötet wurden. In Kramatorsk traf eine Bombe einen überfüllten Bahnhof. In Vinnytsa tötete ein Bombenanschlag auf das Stadtzentrum ein Kind). In Yelenovka wurde ein schreckliches Massaker an ukrainischen Gefangenen verübt. Diese Liste könnte noch lange fortgesetzt werden. Irgendwann Mitte Mai wurde ich sehr von einem BBC-Bericht über eine Beerdigung in Lviv von an der Front gefallenen, ukrainischen Soldaten berührt. In der Zeremonie des Abschieds konnte man neben endloser Trauer auch eine unglaublich starke, zurückhaltende Würde spüren. Ein Gefühl voll maximaler Willenskonzentration, brillant beschrieben von Rudyard  Kipling in seinem Gedicht „If“:
“If you can force your heart and nerve and sinew
To serve your turn long after they are gone,   
And so hold on when there is nothing in you
Except the Will which says to them: ‘Hold on!’”
Diesem Geist, dieser unbeschreiblichen Energie der Menschen möchte ich diesen vorletzten Teil der Suite widmen.

9. Gegenoffensive.
Und doch fiel Kyiv nicht in den ersten drei Tagen, wie von BBC und CNN vorhergesagt. Russische Truppen wurden aus Kyiv zurückgeschlagen und zogen sich zurück. Später, im Sommer 2022, wurde die Region Kharkiv befreit. Im Oktober 2022, kamen Nachrichten über die Befreiung von Kherson. Jetzt ist es schon ganz klar — die Ukraine wird nicht aufgeben Es gibt nur einen Weg: kämpfen bis zum Ende, bis das ganze Land von der Okkupation befreit ist. Über diese Schlacht, die heutzutage so oft mit der Schlacht von David gegen Goliath verglichen wird, spricht der neunte Satz meiner Suite. Das ist die Musik über eine Kollision zweier Zukunftsvisionen, über den Kampf zwischen Demokratie und Diktatur. In diesem Teil der Suite sollte die dramatische Spannung der Suite ihren Höhepunkt erreichen.

After 24 — Die Freiheitsmelodie. 
Im letzten Teil der Suite kehrt das erste Thema zurück, das Thema des friedlichen Lebens vor dem Krieg. Und obwohl wir die Melodie, mit der die Suite begann, wiedererkennen, ist von Sorglosigkeit, von kindlicher Naivität keine Spur zu spüren. Der letzte Teil des ukrainischen Tagebuchs ist ein Ausdruck meiner Hoffnung auf ein friedliches Leben nach dem Krieg, nach dem Sieg der Wahrheit über die Lüge, der Freiheit über die Diktatur. Ich bin sicher, dass die Ukraine einen schwierigen, aber glücklichen Weg vor sich hat in der Europäischen Familie. Mit dieser Atmosphäre der Hoffnung, wenn auch unter Tränen, endet das “Ukrainische Tagebuch“.

 

 

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