Ron Carter, geboren am 4. Mai 1937 ist eine der letzten lebenden Legenden des Jazz
Man stelle sich vor, es gäbe keinen Ron Carter. Dann gäbe es so viel weniger Kunst auf dieser Welt - bekannte Stanley Clarke. Der „Fuchs“, wie ihn Nat Adderley genannt hat, ist ein Solist von hohen Graden und wird als Sideman zum ruhenden Pol jedweder Besetzung. Ron Carter: „Der Bassist als Stütze der Gruppe ist verantwortlich für Time, Rhythmus, Harmonik und Linien.“ Seine riskaten Drops sind unnachahmliche Äußerungen rhythmischer Souveränität und seine abgeschliffenen, auf den Kern reduzierten und doch nicht abstrakten Basslinien, wie er sie Mitte der 1960er Jahre bei Miles Davis erstmals einem breiteren Publikum vorgestellt hat, stecken voller melodischer Abenteuer. Solistisch setzt der von akustischen Instrumenten überzeugte Musiker häufig auch einen Piccolo Bass ein, der etwa drei Viertel eines üblichen Basses misst, klanglich in die Nähe des Cello kommt, pizzicato jedoch wesentlich längere Notenwerte halten kann.
Ron Carter kam 1937 in Ferndale / Michigan zur Welt, erlernte mit zehn Jahren Cello an der High School, dann auch Bass, Geige, Klarinette, Posaune und Tuba. Er studierte an der Eastman School in Rochester, danach an der Manhattan School of Music. Carter ist der perfekte Jazzbassist schlechthin. Er hat Jazzgeschichte geschrieben und sich stets weiterentwickelt. Sein einzigartiges Spiel ist auf rund 3.000 Alben zu hören, etwa 50 davon nahm er als Leader auf. 1963 wurde Ron Carter Mitglied des Miles Davis Quintet. Mit Miles entstanden u.a. die Alben “Seven Steps To Heaven“, “My Funny Valentine“ und “Miles Smiles“. Carter partizipierte auch an einigen Friedrich Gulda-Projekten in Österreich und arbeitete ab 1968 mit der Sängerin Lena Horne, später mit Michel Legrand und nach 1973 mit seinem eigenen New York Jazz Quartet. Ron Carter wurde Dauer-Pollsieger diverser Jazzmagazine, gastierte auf allen wichtigen Festivals und fiel durch seine Johann Sebastian Bach-Interpretationen sowie seine Publikation “Building A Jazz Bass Line“ auf, eine Standardschule für fortgeschrittene Bassisten. Zu erwähnen ist auch “The Music Of Ron Carter“, die 140 seiner Kompositionen enthält. Ron Carter verfügt über nahezu unbegrenzte technische wie musikalische Mittel, die er aber wohldosiert einsetzt. Er arbeitete mit Eric Dolphy, Don Ellis, Jaki Byard, Charles Lloyd, Mal Waldron, Jazz Composers Orchestra, Herbie Hancock, Hubert Laws, George Benson, McCoy Tyner, Tony Williams, Carlos Santana u.v.a.
Ron Carter — eine der letzten lebenden Jazzlegenden
Die Hotellobby des 5-Sterne-Hotels Eden au Lac in Zürich ist kaum besetzt an diesem Nachmittag. Die Bedienung ist freundlich und diskret, aus den Lautsprechern klingt leise klassische Musik. Um Punkt fünf gehen die Lifttüren auf und ein elegant gekleideter Ron Carter tritt mit einer Baskenmütze in der Hand ins Foyer.
"Früh in meinem Leben ging es mir nicht um Jazz. Ich wollte klassischer Musiker werden."
Ron Carter
Die Musik ist das Wichtigste
Bereits bei seinem Anblick ist klar, dass es sich hier um eine spezielle Persönlichkeit handelt: Ron Carter ist zurückhaltend, aber die Art und Weise, wie er sich bewegt und wie er gekleidet ist, versprüht die Grösse und den Charme einer anderen Zeit. Es handelt sich hier um einen Mann, dem man seine 75 Jahre nicht ansieht, dennoch widerspiegeln sich seine Lebenserfahrung und die rund 60 Jahre im Musikgeschäft in seinen Augen und Antworten. So könnte man sich auf die Frage, warum er so erfolgreich ist, viele mögliche Antworten vorstellen. Seine ist so simpel wie profan: "Pünktlich sein, professionell sein, und beim Spielen jeden Tag das Beste geben". Im Laufe des Interviews bestätigt sich das Bild, das man sich in den ersten Minuten von ihm macht: Ron Carter ist trotz allem Ruhm und Erfolg bescheiden geblieben. Es geht ihm in erster Linie um die Musik – alles andere ist nebensächlich.
Als Kind träumte er von der klassischen Musik
Bereits als Kind habe er den Wunsch verspürt, Musiker zu werden. Ganz ohne musikalisches Vorbild in der Familie, inspirierte ihn vor allem die klassische Musik. "Früh in meinem Leben ging es mir nicht um Jazz. Ich wollte klassischer Musiker werden", sagt Ron Carter über die Anfänge seiner Musikkarriere. So begann er schon im Alter von zehn Jahren, Cello zu spielen. Entdeckte dadurch auch seine Vorliebe für den Kontrabass. "Und ich entschied mich erst im College, Jazz zu spielen. Das war acht Jahre später".
"Ich spiele einfach nur Bass und die Leute mögen meine Musik und fragen mich für ihre Projekte an."
"Jeder Abend, an dem ich zur Arbeit gehen kann, ist für mich ein Highlight."
Durch seine fundierte Musikausbildung und sein aussergewöhnliches Talent wurden schon früh zu dieser Zeit bekannte Jazzmusiker auf ihn aufmerksam. Was danach folgte, ging in die Geschichte des Jazz ein: Ron Carter spielte nicht nur mit allen namhaften Grössen, er trug mit dem Piccolo-Bass auch selbst zur Geschichte des Jazz bei. Das Ergebnis seines Lebens kann sich sehen lassen: Mit der Beteiligung an über 2’000 Alben gilt er als der meistproduzierte Bassist der Geschichte. Dennoch bleibt das wohl bekannteste Engagement jenes der frühen 60er Jahre im zweiten Miles Davis-Quintett. Auf die Frage, ob diese Zusammenarbeit zum Highlight seiner Karriere gehörte, sagt Ron Carter: "Für mich ist jeder Abend, an dem ich zur Arbeit gehen kann, ein Highlight. Wenn ich mir sage, dass meine Auftraggeber auch jemand anders hätten einstellen können. Wenn ich mir vorstelle, wie sich der Bass an diesem Abend anfühlt. Wenn ich an die Musik denke, die ich spielen werde: Jeden Abend, an dem ich arbeiten gehen kann und die Chance habe, Bass zu spielen, ist für mich ein Highlight."
Afro-amerikanische Musiker kämpften mit Rassismus
Dennoch gehört diese Band zu der wohl berühmtesten der Jazzgeschichte. "Alle fünf Musiker dieser Band sind Weltstars geworden", sagt Peter Bürli, Jazzexperte beim Schweizer Radio DRS. Neben Herbie Hancock, Tony Williams und Wayne Shorter eben auch Ron Carter: "Wer mit Miles Davis spielen kann, schlechter wird man dadurch sicher nicht". Doch abgesehen vom Glanz, mit dem das Miles Davis-Quintett heute in Verbindung gebracht wird, waren die Anfänge der Jazzmusiker alles andere als glorreich. Afro-amerikanische Musiker hatten speziell in der damaligen Zeit mit Rassismus zu kämpfen. Auf die Frage, ob es heute einfacher sei, sagt Ron Carter: "Es ist heute genauso schwierig wie früher. Wenn Sie Bilder von Orchestern der Fünfzigerjahre anschauen und mit Bildern von Orchestern der heutigen Zeit vergleichen, werden Sie sehen, dass die Zahl der afro-amerikanischen Musiker in den fünf wichtigsten Orchestern nicht wesentlich zugenommen hat. Deshalb denke ich, dass es heute nicht einfacher ist, als vor 50 Jahren."
"Ich hatte eine tolle Zeit" — Carter zu seinem Leben.
Sechzigerjahre zählen zu den wichtigsten der Jazzgeschichte
Dennoch habe sich vieles zum Besseren gewendet: "Heute haben wir nicht nur bessere Musiker, wir haben auch bessere Instrumente und bessere Aufnahmestudios. Auch die Klaviere in Nachtclubs sind besser. Jugendliche können Jazz an einer Schule studieren, anstatt sich in Nachtclubs durchzuschlagen. Viele Dinge sind heute besser als früher." Trotzdem zählen für viele Jazzliebhaber die Sechzigerjahre immer noch zu den wichtigsten der Geschichte. "Es war eine sehr wichtige Zeit, aber ob es die wichtigste war, wird die Geschichte erst noch zeigen. Und ich bin nicht derjenige, der sagt, dass die Siebziger- oder Achtzigerjahre nicht produktiv waren. Sicherlich waren die Sechzigerjahre für die Entwicklung der Jazzmusik sehr wichtig. Aber diese Aussage genügt mir auch schon." Ähnlich offen antwortet Ron Carter auf die Frage nach seiner Lieblingsplatte: "Wenn ich diese Frage beantworte, würde das bedeuten, dass die anderen 1'999 Alben weniger gut waren. Aber das ist ganz und gar nicht der Fall!"
"Ich mag Zeiten, in denen ich keine Musik höre."
Trotz merklichem Einfluss auf die Jazzgeschichte ist Ron Carter bis heute bescheiden geblieben: "Ich spiele einfach nur Bass und die Leute mögen meine Musik und fragen mich für ihre Projekte an." Es handelt sich hier eben nicht nur um einen ganz grossen Jazzmusiker, sondern auch um eine freundliche und zurückhaltende Person, die sich in seiner Freizeit am liebsten mit einem Buch oder einem Puzzle entspannt. "Ich mag Zeiten, in denen ich keine Musik höre. Manchmal brauche ich die Ruhe." Und was meint er zu seinem Leben? "Ich hatte eine tolle Zeit", sagt Carter. Aber er geniesse auch die Gegenwart: "Diese Musiker heute Abend sind vielleicht nicht so berühmt wie Sonny Rollins oder Wayne Shorter oder Herbie Hancock. Aber es sind nette Leute und sie spielen gut. Das reicht mir."